Skandinavien in Mecklenburg

Von Rodby bis Barth in einem Abwasch

Text und Fotos von Rainer Janneck

Poppenbüttel! Der Fotoapparat ist bei Karina in Poppenbüttel. Es ist vier Uhr nachmittags und ich will noch heute auf kleinsten Straßen von Hamburg nach Fehmarn. Zu oft habe ich in letzter Zeit die neuen Bundesländer, 'die Zone', wie meine Oma immer sagte, bereist. Dänemark, vielleicht ja sogar Schweden soll es an diesem Wochenende werden. Und jetzt fehlt der Fotoapparat!

Eine Stunde später, die Kamera ist nach zügiger Durchquerung Hamburgs im Tankrucksack, beginnt es zu regnen! Eine riesige schwarze Wolke folgt mir bis Scharbeutz an die Ostsee. Das Vorhaben kleinster Landstraßen kann ich vergessen. Hinter mir heller Himmel, links sogar Sonne, rechts ist es schon dunkler, über und vor mir ist und bleibt es schwarz. Die Honda CBR 1100 XX katapultiert uns nach vorne, ins Schwarze. Irgendwann bin ich in der Jugendherberge in Burg auf Fehmarn, habe außer einem nassen Visier nichts gesehen und bin fix und fertig. Ein Einzelzimmer sei leider nicht mehr frei, verneint der Jugendherbergszivildienstleistende.

Nomen est Omen auf Fehmarn

Der ältere Herr aus meinem Mehrbettzimmer schlurft ganz entspannt den Gang der Jugendherberge zu den Waschräumen entlang. Bekleidet ausschließlich mit Badeschlappen und großzügig geschnittener Feinripp-Unterhose - auch noch falsch herum angezogen. Nach schlechtem Schlaf - der ältere Herr schnarcht und der junge Mann im unteren Teil des Hochbettes wälzt sich - beeindrucke ich den morgendlichen Flur auf dem Weg ins Bad mit der Kombination Motorradstiefel und Designer-Unterhose.

Beim Frühstück zwischen 'Backfischen', kichernden Weibchen im ganz nervigen Alter, mit schlaksigen Körpern, zu großen Füßen und ewig peinlich berührtem Gesichtsausdruck, komme ich zu dem Schluss, daß Jugendherbergen in Ost- und Westdeutschland grundsätzlich verschieden sind. Der ostdeutsche Charme, die lächelnde und selbstverständliche Improvisation, die interessanten Motorrad-, Fahrrad-, Kanu- oder sonst wie ‚Wanderer', die chronische Unterbelegung vermisse ich. Dieses undefinierbare Gefühl von ‚Unterwegs' stellt sich im Westen, zwischen all den Jugendgruppen, nicht ein.

Trügerischer, kurzer Sonnenschein

In derart grundsätzlich Jugendherbergstheoretisches vertieft beginnt in Puttgarden die Verladung auf die Fähre nach Rodby, nach Dänemark. Mir fallen die riesigen Angstränder auf den Reifen meiner XX auf. 5000 Kilometer haben die Bridgestones hinter sich und noch keine Kurve gesehen. Ein Trauerspiel...

Der Himmel ist immer noch pechschwarz, nach zwei Stunden Fahrt durch Dänemark bin ich entsetzt. Das Inland ist fahrerisch wie touristisch keine dritte Stunde Aufenthalt wert. Die Straßen sind so gerade und gepflegt wie im Legoland, die Gärten, die Orte, die Häuser, alles ist aufgeräumt. Wer einen familiären Strandurlaub plant, wird hier wohl glücklich werden können.
Einsame Wölfe aber brauchen wildes, weites Land um sich mit sich Selbst zu treffen.
Wieder in Richtung Fähre beschließe ich einsamer Wolf nach Hause zu fahren, zurück nach Hamburg. Was der anhaltende Wolkenbruch allerdings verhindert. Blitz und Donner. Vier Stunden Aufenthalt unter einem großen, roten Klappschirm eines bekannten fast-food-Restaurants. Und das für Einen, der gestern noch glaubte, 'unendliche Weiten, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat' zu finden! Was für eine Pleite. Als Spatzen sich über die von mir zur Verfügung gestellten Kuchenreste so sehr freuen, daß sie sich bis auf wenige Zentimeter an mich herantrauen, werte ich dies als positives Signal. Die kurze Hoffnung beendet ein weiterer Wolkenbruch.

Zwischen den Wolkenbrüchen...

Gegen Abend regnet es seltener. In einer Bushaltestelle bei Timmendorfer Strand (als Unterstand wegen des neuerlichen Schauers) höre ich von einer Wettervorhersage, die angeblich für morgen Sommerliches prophezeie. Ich glaube kein Wort, für mich ist dieser Ausflug endgültig vorbei! Mir reicht's! Und überhaupt, was soll diese ganze Motorradfahrerei? Verkaufen sollte man das Gelumpe! Nie mehr wieder werde ich...

Kurz darauf finde ich mich in Richtung Mecklenburg wieder. Die erstmals trockene und teilweise sogar sonnige Fahrt zur Fähre nach Travemünde weiter über Klütz nach Wismar entschädigt mich schon fast vollständig. Die ‚Zone' begrüßt mich, ich grüße vertraut zurück. Ja, so soll es sein, das ist es, was ich suche! Kleine Straßen, kaum befahrene Alleen, von mir aus auch mit schlechtem Belag. Mit Grauen denke ich zurück an die perfekt asphaltierten, breiten, mit großzügiger Sicherheitszone versehenen, kerzengeraden, gähnend langweiligen 'Landstraßen' Dänemarks.

Spätabendlicher Sonnenaufgang in Mecklenburg

In der Jugendherberge Wismar sei noch ein Senior willkommen, erfahre ich telefonisch von einer sehr charmanten Dame. Was für eine Stimme! In Wismar verfahre ich mich, selbige Dame erläutert mir offensichtlichem Deppen geduldig und liebenswürdig, daß ich schon fast vor der Jugendherberge stehe. Als ich 'Sie' dann endlich vor mir sehe, ist sie noch attraktiver als ich telefonisch bereits vermutete. Eine schöne junge Frau. Verlegen-überdreht führen wir einen kurzen Jugendherbergsdialog, sie schenkt mir ein aktuelles Herbergsverzeichnis. Angenehm verwirrt suche ich meine Unterkunft auf. Ich bin allein in dem Zimmer. Erleichtert freue ich mich auf morgen, denke noch daran, was eigentlich das Unperfekte und Improvisierte Ostdeutschlands so reizvoll und liebenswert für mich macht, und bin dabei wohl eingeschlafen.

Die Sonne scheint wieder
Seebrücke in Kühlungsborn

Die Sonne scheint! Keine Wolke zu sehen! 20 Grad. Gibt's das?! Jetzt aber raus! In Kühlungsborn bei einem Cappuccino freue ich mich so sehr über die Sonne. In den schattigen Alleen musste die Griffheizung noch einspringen. Jetzt, 12 Uhr mittags auf dem Marktplatz, wärmt die Sonne. Zum ersten mal, seit ich vorgestern Hamburg verließ, komme ich wirklich zur Ruhe. In Fischland werde ich übernachten, morgen, am ersten Juni, die Küste entlangcruisen. Vielleicht nach Rügen?

In der Sonne sitzen, unbeholfenen und zufriedenen Rentnern sowie straff organisierten, eher genervten jungen Familien zusehen: Es macht mich einfach glücklich. Warum, weiß ich nicht. Die Sonne, die Wärme, zärtliche Gedanken an Karina, freie Zeit, lange Unterhosen, frische Socken. Auch das Schweigen tut mir gut, so bin ich mehr bei mir.
Kühle, schattige, feuchte, vogelbezwitscherte, lebenspralle Alleen
Richtung Fischland Daarß/Zingst versaut ein immer heftigerer Wind die Ideallinie. Zingst selber ist wenig angenehm, der Ort, die Straßen sind überfüllt, das erste Juni-Wochenende sorgt für regen Ausflugsverkehr. Auf Rügen wird es wohl auch nicht anders sein. Bei Ribnitz-Damgarten biege ich links Richtung Neuhaus ab, stelle die XX am Strandübergang 18 ab, ein kurzer Gang durch die Dünen und: Das Meer! Weißer Sand, kilometerweiter weißer Sand. Rechts von mir ein dösendes Paar, links eine schlafende Dame. Sonst niemand. Vor mir viel Wind, knackige Wellen und todesmutige Surfer. Dies ist ein idealer Ort zum Mittagessen. In der Jugendherberge auf Vorrat belegte Brötchen ("... darf ich?" "Klaaa! Vergessense den Appel nich, dett rutscht bessa..."), Mineralwasser sowie eine quadratische, praktische und gute Schokolade ergeben in der Strandsonne Mecklenburgs das ideale Mittagessen. Ich liebe die ‚Zone' und gelobe, nie wieder ein abfälliges Wort über Mecklenburg-Vorpommern zu sagen.
5-Gänge Menü in exklusiver Lage und viel Wind in der Landschaftsgestaltung

Weiter Richtung Nordost missachte ich leider eine wichtige Regel: Auf der Landkarte gelbe Straßen im Westen IMMER fahren, im Osten NIE! Die Konsequenz ist eine nicht enden wollende Schüttelstrecke. Ortskundige Motorradfahrer überreden mich, trotzdem die auf der Karte ebenfalls gelbe Straße von Kröpelin nach Kühlungsborn mit Ihnen zu fahren. Immer noch fluchend folge ich zunächst zögerlich, dann wird es flotter, guter Asphalt, spitzbübisches Grinsen zieht die Mundwinkel hoch, die großen Motoren brüllen vor Freude. Bis wir von einem wunderschönen 'Berg' auf die See runterschauen und staunen.
Hier ist mein Skandinavien. In Mecklenburg. Manchmal führen eben Umwege zum Ziel.

XX mit Freundin in ‚Skandinavien' zwischen Kröpelin und Kühlungsborn

Gelohnt hat sich auch der kurze Abstecher zur Jugendherberge Barth. Ein Idyll direkt am Wasser, dem ‚Naturpark Vorpommersche Boddenlandschaft'. Die Herbergsleiter Bärbel und Manfred Senst halten in einem großen Park Hängebauchschweine, Ziegen, Schafe, Hasen. Und Pferde gibt es auch. Am nettesten und liebsten sind die Schweine. Beim Ruf "Hey, du Kotelett!!!" strahlen die mich an und laufen freudig aufgeregt grunzend zu mir. Sie mögen es, wenn man sie streichelt. Fridolin, der Eber, könne sogar Stimmen imitieren. Behauptet zumindest Herr Senst. Ich glaube ihm und fühle mich schuldig wegen meiner gemeinen Worte.

Flirtende Schweinedame

Leider ist kein Bett mehr frei, heute findet hier eine Hochzeit statt. Im Wegfahren sehe ich noch die bildschöne Braut und bin gerührt. Hier wäre ich gerne geblieben.

In der alten Stadtmauer von Stralsund im 'Torschließerhaus', dem Restaurant neben der Jugendherberge, gibt es ein köstliches Abendessen. Undefinierbares Frauengekreische aus den weiteren Gasträumen interessiert im Angesicht des riesigen 'Torschließer-Grillteller' zunächst wenig. Der erste Biss ist kaum getan, als eine künftige Braut mit Ihren gesamten Freundinnen im Innenhof auftaucht. Junggesellinnen-Abschied! Oje, wenn das mal gut geht. Die Braut in spe trägt vor, daß dies der letzte Abend sei, an dem noch einmal alle Männer ihr gefallen dürften (... ich ahne nichts Gutes...) und daher bitte sie um die Gunst eines Liedes, Tanzes, Gedichtes etc. Das gefällt mir. So sittsam. Also singe ich. Die Damen sind bewegt, gerührt, hingerissen (ich singe nämlich gar nicht schlecht!). Eine Rose und einen Kuss erhalte ich zum Dank. Der Tischnachbar fragt, ob ich in einer Band singe?!

Stilleben im Stralsunder Stadtpark

Ein abendlicher Spaziergang durch Stralsund lässt mich bedrückt den Bevölkerungsschwund der Region erleben. Stralsund ist wie leergefegt. Alle Häuser werden renoviert, überall Baustellen, alles steht unter Denkmalschutz, wird herausgeputzt. Nur die Menschen fehlen. Als hätte man zu Hause renoviert und wäre dann ausgezogen. In der urwüchsigen Jugendherberge schlafe ich tief und fest. Beim morgendlichen Sammelduschen führen wir vier erwachsene, nackte, untereinander bisher nicht bekannte Männer ein so lustiges Gespräch über Sport, frühes Aufstehen, optische Konsequenzen zu kalten Duschens, Vollkorn-Brot versus Brötchen zum Frühstück, daß richtig Stimmung in der Männer-Dusche aufkommt. Die Halbwüchsigen sehen uns ungläubig an und halten uns für total bescheuert.

Anhalten, noch nicht mal den Helm absetzen, staunen, weiterfahren...

Noch ein Cappuccino auf dem Rückweg, irgendwo an der Küste. Auf der Karte gibt es drei Sorten Cappuccino: 1. Cappuccino, 2. Cappuccino mit Milch (teurer) und 3. Cappuccino mit Sahne (noch teurer). Ich bestelle Cappuccino. "Mit Milch oder mit Sahne?" "Nein, einfach Cappuccino und ein kleines Glas Leitungswasser." Die Italiener scheinen noch nicht in Italien gewesen zu sein, meine Bestellung verursacht größere Diskussionen in der Bar. Erst jetzt fällt mir auf, daß ich hier der einzige Gast bin, obwohl alle anderen Cafes vollbesetzt sind. Hmmm. Schließlich erhalte ich Cappuccino mit Sahne und ein Riesenglas Mineralwasser. Angesichts des Service und der Höhe der Rechnung verwundert es nicht, daß alle Stühle frei bleiben.

Doch so lange gastronomische Unfertigkeiten die einzige Schwäche dieser herrlichen Region sind, nehme ich das gerne und lächelnd in Kauf. Neue Wolken ziehen auf, es wird Zeit, meinen Ausflug "nach Dänemark, vielleicht ja sogar Schweden", zufrieden mit einer schönen Landstraßenfahrt durch Mecklenburg zu beenden.

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